«Chinesische Chronik» – Rita BALDEGGER

Beijing, den 11. Juni 2001

Der grosse Unbekannte
Hu Jintao ist der designierte Nachfolger von Jiang Zemin in Partei und Regierung. Hus Überlebensstrategie ist die Profillosigkeit. Bisher hat sie gewirkt.

Seine Haare sind zu schwarz für sein Alter und die Brille ist zu gross für sein Gesicht. Jiang Zemin ist keine Ehrfurcht einflössende Persönlichkeit. Doch trotz seines Mangels an Charisma kann er sich seit Jahren an der Macht halten. Seit 1989 ist er Generalsekretär der Kommunistischen Partei und seit 1993 Staatschef Chinas, beides durch Deng Xiaopings Gnaden.

Die Zweifel an seiner politischen Haltbarkeit nach Dengs Tod 1997 sind längst verstummt, auch wenn er nach wie vor nicht als starker Führer gilt. Unter Jiang Zemin ist es in der chinesischen Führerschaft ruhig geworden, ruhig bis zur Ereignislosigkeit. Stabilität überall und über alles. Dem Mann ohne Eigenschaften wird eine Fähigkeit zugesprochen: geschicktes Taktieren. Die Fraktionen hält er durch eine kluge Personalpolitik in der Balance und durch seine Bereitschaft, die Macht zu teilen. Ohne nennenswerte Basis in der Parteihierarchie und im Militär stand ihm kein anderer Weg offen.

So ordentlich, wie Jiang seine Regentschaft gestaltet, so ordentlich plant er seinen Abgang. Er hat angekündigt, am 16. Parteikongress im Jahr 2002 sein Amt als Generalsekretär abzugeben. Sein Rücktritt ist nur die Spitze des Eisbergs: Rund zwei Drittel aller Kader im Zentralkomitee, im Politbüro sowie im Ständigen Ausschuss des Politbüros werden gehen und einer jüngeren Generation Platz machen.

Jiang Zemin, der Nachlassverwalter von Deng Xiaoping, der mit 90 hinter den Kulissen noch die Fäden zog, vertritt die Ansicht, dass hohe Parteikader mit 70 in Pension gehen sollten. Jiang ist 75. Im Jahr 2003 muss er zudem als Staatspräsident zurücktreten. Den Vorsitz in der mächtigen Zentralen Militärkommission will er jedoch behalten – wie vor ihm schon Deng.

Der Nachfolger von Jiang Zemin in Partei und Regierung scheint bereits gesetzt. Es handelt sich um Hu Jintao, Nummer fünf im Ständigen Ausschuss des Politbüros sowie Vize-Präsident und Vize-Vorsitzender der Zentralen Militärkommission. Der 59jährige Hu ist ein Vertreter der vierten Generation chinesischer Führer.

Hu, der aus einfachen Verhältnissen stammt, wurde mit 17 zum Ingenieur-Studium an der Qinghua-Universität in Peking zugelassen. Dort zeichnete er sich nicht nur durch gute Noten, sondern auch durch sein Engagement in politischen Kampagnen aus. Er wurde zum « politischen Berater », eine mit höchstem Prestige behaftete Funktion innerhalb der bereits elitären Qinghua-Universität.

Zeitgleich mit seinem Studienabschluss 1965 trat er in die Kommunistische Partei ein. Hu blieb als Lehrbeauftragter und Berater an der Qinghua-Universität. Er lebte getreu dem damaligen Qinghua-Leitsatz: sei gehorsam und produktiv. Die Bahnen für seine Karriere waren gestellt, doch ein Jahr später brach die Kulturrevolution aus, und vom Sieger wurde er vorübergehend zum Verlierer.

1968 wurde er als Arbeiter zum Bau eines Wasserkraftwerkes in die nordwestliche Provinz Gansu entsandt. Schnell stieg er zum Techniker, zum Büroangestellten und dann zum Vize-Parteisekretär seiner Arbeitseinheit auf. 1980 traf er Song Ping, den Parteisekretär der Provinz Gansu und Absolventen der Qinghua-Universität.

Diese Begegnung brachte die Wende. Mit Song als Mentor ging es mit Hus Karriere rasant voran: Er wurde Sekretär des nationalen Kommunistischen Jugendverbandes, Parteisekretär der notorisch armen Provinz Guizhou, Parteisekretär im Krisengebiet Tibet (wo er Unabhängigkeitsbewegungen unterdrückte), Präsident der Parteischule (diese Funktion hat er heute noch inne) und 1992 Mitglied des Ständigen Ausschusses. Er war im Zentrum der Macht. Ohne die Verbindungen durch seine Alma Mater, eine Kaderschmiede ersten Ranges, hätte er es vermutlich nicht so weit gebracht.

Der Aufstieg des Hu Jintao geschah fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Als Parteisekretär der Provinz Guizhou – deren Los sich unter Hu nicht merklich verbesserte -, bemerkte er gegenüber der Presse: « Zu viel Lob für einen jungen Parteisekretär führt nur zu seinem schnellen Untergang. »

Seine Ansichten sind weitgehend unbekannt. Hingegen lassen sich aus seinen Reden, vor allem seit seiner Berufung zum Vize-Präsidenten 1998, zwei wiederkehrende Themen herausfiltrieren: Nationalismus und Patriotismus. Dass er sich dieser -ismen bedient, ist indes nicht weiter verwunderlich: Die kommunistische Ideologie hat in China ausgedient. Die Partei kann nur noch die vaterländische Karte spielen.

Hus patriotische Haltung entspricht der Stimmung im Volk. Das enthält sich ihm gegenüber jeglicher politischer Witze. Andere designierte Nachfolger wie Hua Guofeng oder auch Jiang Zemin erfuhren eine gegenteilige Behandlung. Jiang wird bis heute nicht verschont. Witze kursieren über seine « Shanghai Clique » (auch Hu stammt aus der gleichen Gegend wie Jiang) oder, volkstümlicher, über das Aussehen seiner Frau. Anders betracht ist es schwierig, bei Hu, der die Profillosigkeit pflegt, Ansätze für einen Witz zu finden. Auch sein smartes Äusseres gibt nichts her.

Hu Jintaos Nachfolge von Jiang Zemin scheint in der Führerschaft unangefochten, zumal sein Aufstieg noch mit dem Segen Dengs geschah. Cheng Li, der Autor des Buches « China’s Leaders: The New Generation » (die ergiebigste Quelle zu Hu), preist Hus Intelligenz und Persönlichkeit und sein ausgezeichnetes politisches Netzwerk. Das wird er brauchen. Sollte er es tatsächlich an die Spitze schaffen, wird ihm kaum erspart bleiben, was bereits Jiang tun musste: den Konsens seiner Kollegen zu suchen.

Diese Aufgabe wird für Hu noch schwieriger als für Jiang. Die dritte Generation der Führer, welcher Jiang angehört, hat einen relativ homogenen Hintergrund. Ihr Band ist die kommunistische Revolution und der Aufbau der Volksrepublik. Die vierte Generation, die heute 50- bis 60jährigen, sind im jetzigen System grossgeworden. Ihr einschneidendes Erlebnis war die Kulturrevolution.

In jener Zeit haben sie gelernt, wie flüchtig die Machtverhältnisse sein können. Die Kulturrevolution war ein Erdbeben, das die politische Tektonik verschoben hat. Auf den verschiedenen Platten standen sie sich gegenüber, die Fraktionen der Roten Garden: die einen gemässigter, die anderen ungezügelt in Ideologie und der Anwendung von Gewalt.

Die gemeinsame Erfahrung der Führer der vierten Generation ist die Zersplitterung. Ihnen fehlt eine politische Solidarität. Aufgrund dieser Fraktionierung wird sich kaum eine überlebensgrosse Figur wie Mao oder Deng aus der Führerschaft erheben können. Bereits Jiang ist es nicht mehr gelungen, die Fussstapfen von Deng auszufüllen, obwohl er es gerne hätte.

Was Jiang hingegen richtig erkannt hat, war, die realen Probleme des Landes vor interne Machtkämpfe zu stellen – wissend, dass das Volk die Partei am Gelingen der wirtschaftlichen Reformen misst. Diesem Druck wird auch die nächste Führergeneration ausgesetzt sein, und wohl noch in stärkerem Masse. Hinzu kommt, dass die Regierung immer vielfältigeren Interessen in der Gesellschaft Rechnung tragen muss. Wird der Pluralismus in die Regierungsform überschwappen?

Die jetzige Regierung spricht von der Notwendigkeit vom Aufbau einer « sozialistischen Demokratie ». Das beinhaltet mehr Transparenz und Verantwortlichkeit gegenüber dem Volk, aber nicht das Zulassen einer politischen Opposition. Daran wird auch Hu Jintao, der elitäre Technokrat und stramme Genosse, nicht rütteln. Vielleicht dann die fünfte Generation.

 

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